Kurz-Kurzgeschichte: Schicksalsbegegnung
Tuschelnd steckten die Schlüter und die Hansen die Köpfe zusammen, als Petersen pünktlich auf die Minute zur Tür hereinkam. „Guten Abend!“, erklang es im Chor. Petersen nickte den beiden Tratschtanten mit gespielter Freundlichkeit zu und flüchtete die Treppe hinauf. „Dieser Petersen... mit fünfundvierzig noch Junggeselle, wer weiß..“, flogen ihm geflüsterte Wortfetzen hinterher.
Als Petersen aus dem Halbdunkel des Treppenhauses auftauchte, blickte er in zwei grün-blaue Augen, welche ihn fixierten. Wie hypnotisiert blieb Petersen auf der obersten Stufe stehen. Direkt vor seiner Wohnung stand eine junge Frau im milchigen Schein der Flurbeleuchtung, etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Ihre grellen Trendklamotten bildeten einen scharfen Kontrast zu Petersens tristem Anzug. Die hatte sich sicher in der Türe geirrt. Sanft, aber mit deutlicher Stimme fragte die Frau: „Sind Sie Herr Petersen? Hermann Petersen, der Finanzbeamte?“ Petersen zögerte. Er umklammerte seine speckige braune Ledertasche wie ein ertrinkender den Rettungsring. Verfolgten ihn seine finanziellen Problemfälle bereits bis nach Hause? Schließlich löste sich Petersen aus seiner Erstarrung und bewegte sich Richtung Türe. „Ja, so heiße ich. Was wollen Sie?“
„Das sollten wir lieber drinnen besprechen“, antwortete die Unbekannte, und schob dabei nervös ihr Handy von einer Hand in die andere. Frau Hansen kam, wie zufällig, die Treppe herauf-gelaufen. Petersen schnaubte. Ausgerechnet die Hansen musste jetzt umherschleichen. Verzweifelt öffnete er die Wohnungstür. „Kommen Sie doch herein“, sagte er, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass er abends fremde Frauen in seine Wohnung einließ.
Die unerwartete Besucherin wirkte in Petersens schlichter Möbellandschaft, wie ein bruchgelandeter bunter Vogel. „Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir? Falls es um etwas Dienstliches geht können Sie sofort wieder gehen“, kläffte Petersen. Nun würde sein Abendessen warten müssen, und die Tagesschau womöglich ohne ihn beginnen. „Ich heiße Ellinore Zimmermann, aber alle nennen mich Nelli. Ich bin, na ja, meine Mutter hat mit Ihnen zusammen in Hamburg studiert: Christine Zimmermann. Ihre Eltern leben auf Baltrum“, antwortete die Fremde. „Christine...“, murmelte Petersen, und wusste nun an wen ihn die Fremde erinnerte.
„Sie wollte damals in die USA, nach Boston, ein Ausland-semester einlegen, hat sich aber dann anders entschieden und die Pension ihrer Eltern auf Baltrum übernommen“, erzählte Nelli. „Was hat das mit mir zu tun?“ Petersen zuckte hilflos mit den Schultern. Sein Magen knurrte, als er sein tauben-graues Jackett auszog und es ordentlich über die Couchlehne legte. „Sie waren damals ein Liebespaar. Das kann nicht sein, dass Sie meine Mutter vergessen haben!“ Nelli blickte bestürzt drein. „Sie hat Sie sehr geliebt. Jedenfalls hat meine Mutter oft über die Zeit damals geredet. Mama hat mir gesagt, dass Sie mein Vater sind“, platzte Nelli schließlich heraus. „Sicher“, erwiderte Petersen patzig und verschränkte die Arme über dem sauber gebügelten blauen Hemd. „Wollen sie Geld erpressen? Ist es das?“ Wütend trommelte er mit seinem Zeigefinger auf den Tisch.
Nelli ging zum Fenster und drehte ihm den Rücken zu. „Meine Mutter ist vor einem Monat bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen. Außer meiner Großmutter habe ich niemanden mehr auf der Welt“, schluchzte sie leise, aber laut genug, dass Petersen die Trauer in ihrer Stimme hören konnte. „Das tut mir leid. Ich habe Christine sehr geliebt - damals. Trotzdem hat sie sich für Boston, also gegen mich entschieden. Es war mir gleich, weshalb sie nicht dorthin gegangen ist. Sie hat mich mit ihren lästigen Briefen bombardiert. Aber einen Petersen verlässt man nicht!“, ereiferte sich der störrische Mann.
„Ja haben Sie denn keinen davon gelesen!“ Entrüstet warf Nelli ihre braune Lockenmähne zurück. „Mama hat ihren Traum aufgegeben, weil sie mich nicht abtreiben wollte. Aus bloßem Stolz hat Mama Sie nicht zur Rechenschaft gezogen! Trotzdem wollte sie, dass ich meinen Vater kenne, doch der hat sich ja nie wieder bei uns gemeldet. All die Briefe...“ Nun trommelte Nelli nervös mit dem Zeigefinger auf den Wohnzimmertisch. Erstaunt blickte Petersen auf ihre Hand. Plötzlich bemerkte Nelli glitzernde Tränen in seinen Augen. Petersen schwieg, dann öffnete er eine Schublade an der Kommode neben sich. Ein Bündel ungeöffneter Briefe kam zum Vorschein, zusammengehalten von einem roten, zerknitterten Band, welches das einzige Stück Farbe in Petersens Wohnung, ja in seinem Leben zu sein schien. Er begann zu lesen. Wort für Wort, Brief für Brief wurde Petersen klar wie viel bunter sein Leben hätte sein können, wenn er nur einmal, zum richtigen Zeitpunkt, über seinen eigenen Schatten gesprungen wäre. Leise schlich sich Nelli ins kalte Treppenhaus und schloss die Tür. Petersen wusste wo er sie finden würde.